Die Soziologie beschäftigt sich zwar ausgiebig mit Moral und moralischen Orientierungen, nicht aber mit den situativ variablen Funktionsweisen und Ausdrucksformen des Gewissens im Alltag. Im Vergleich zu analytisch enger gefassten Begriffen wie „Selbstkontrolle“ oder „moralisches Bewusstsein“ erfasst der Gewissensbegriff eine größere Bandbreite des komplexen Zusammenspiels von Einsichten und Gefühlen sowie des Ineinandergreifens von Erleben, Deuten und Handeln. In diesem Beitrag möchten wir den soziologischen Gehalt des Gewissensbegriffs erschließen und greifen zunächst auf einschlägige Arbeiten von Niklas Luhmann zurück. Dessen Thesen über die Funktionen von Moral und Gewissen kontrastieren wir mit dem kognitionstheoretischen Ansatz zur Entwicklung des moralischen Bewusstseins und einer universalistischen Minimalmoral. Für das Motivationsproblem dieses Moraltyps werden mit den Überlegungen Kants zu moralischen Gefühlen sowie den Ausführungen Randall Collins’ über Interaktionsrituale zwei Lösungen formuliert. Das Entweder-Oder einer durch Vernunft oder Gefühl gewirkten Einsicht in und Bindung an das moralisch Gute kann mit Hans Joas’ Thesen über die Entstehung von Werten und Wertbindungen überwunden werden. Daran anknüpfend konzipieren wir das Gewissen als eine spezifische Artikulationsform moralischer Erfahrungen, in der gefühlsmächtige Erlebnisse, reflexiv zugängliche Einsichten und kommunikativ angeeignete Deutungsmuster dynamisch ineinander greifen.