Zu "Vererbung" und "Vater-Schuld" in storms Novelle Carsten Curator.
Wang, Luzia Mei-ling
In Theodor Storms Werken tauchen haufig Themenkreise auf, die seine Heimat Husum und deren Umgebung darstellen. Nicht nur die Themen der
Landschaftsschilderung Norddeutschlands, der leidvollen
Liebesbeziehungen, der Kunstlerproblematik und der Burgerlichkeit,
sondern auch Themen wie die Familie, das Ringen um die Aufrechterhaltung
der Tradition, aber auch die Anspielung auf den Verfall, die "die
Familie in der Zerstorung mit den tiefsten Schatten" (1) zeigt,
werden dargestellt. Dabei spielt eine wichtige Rolle das
Vater-Sohn-Verhaltnis, das besonders seit Mitte der 70er Jahre Storms
Novellistik beherrscht. Das um 1880 zeitgemasse, aktuelle Thema
"Vererbung," das als ein offensichtlicher Faktor fur das
Schicksal und die Tragik des Menschendaseins galt, dient ebenfalls als
weiterer Stoff insbesondere fur seine spateren Novellen, an denen Storm
seine Schaffenskrafte ubte und seine Lebensauffassung dokumentierte. (2)
Die vorliegende Untersuchung versucht anhand Storms Erzahlung Carsten
Curator und der darin verarbeiteten biographischen Bezuge
herauszufinden, wie Storm das Motiv "Vererbung" am Beispiel
der Trunksucht bearbeitet, wie das Thema der Vater-Schuld sowie die
Schicksalstragik zur Darstellung kommen. Schliesslich ist zu fragen, wie
sich Storms Kunstwerk mit seinen eigenen Erlebnissen verbinden lasst.
Die Novelle Carsten Curator
Die 1878 in Westermanns Illustrierten deutschen Monatsheften
erschienene Novelle Carsten Curator spielt in Storms Geburtsstadt Husum.
Storm erwahnt in seinem Brief an Georg Lorenzen und Ludwig Pietsch, dass
er sich schon seit 10 Jahren mit dem Stoff dazu beschaftigt habe. (3)
Denn er hofft, sich von seinem seelischen Druck frei schreiben zu konnen
und den Sohn Hans von der Trunksucht, die fur ihn zur
"lebenszerstorenden Sorge" (4) wurde, zu befreien. Das
Schicksal seines altesten Sohn Hans, der sein "Sorgenkind" und
seine "ungluckliche Liebe" (5) war, lastet namlich auf seiner Seele.
In der Novelle geht es um einen verstandigen, ruhig abwagenden
Ehrenmann, Carsten Carstens, der von allen Notbedurftigen aufgrund
seiner juristischen Geschafte auch "Curator" genannt wird und
als Rechtsbeistand alleinstehender Frauen in Verwaltungs- und
Vermogensangelegenheiten tatig ist. Bei einer solchen Tatigkeit begegnet
er der Tochter eines verstorbenen fremdlandischen Spekulanten, der
schonen Juliane, die ihn gleich betort und sein bisher gefuhrtes
geregeltes burgerliches Leben ins Schwanken bringt. Der Ehebund folgt,
und mit Julianes Tod im ersten Kindbett endet das Gluck fur Carsten. Der
Sohn Heinrich hat das leidenschaftliche, jedoch leichtsinnige und
abenteuerliche Wesen seiner Mutter geerbt, das die Zuge von
Liederlichkeit und Gleichgultigkeit tragt. Dies wird zur Sorge fur
Carsten. Heinrich erlernt als junger Mann den Beruf des Kaufmanns. In
dieser Eigenschaft soll er fur den Senator in Flensburg Geld abholen,
jedoch in seinem Leichtsinn verspielt er dieses Geld.
Er wird entlassen, bekommt bald danach durch Carstens Freund eine
Arbeitsstelle in Hamburg, wo er trotz des Verdienstes nicht mit dem Geld
auskommt und oftmals Geld von Carsten fordert. Es entstehen
Verschuldungen, die den grossten Teil von Carstens ubriggebliebenem
Vermogen kosten. Dies verschweigt Carsten. Durch einmalige gunstige
Gelegenheit kauft Carsten einen Laden zur sicheren Versorgung der
Zukunft der Familie. Anna, die selbstlose und gutige Pflegetochter
Carstens, deren Eltern verstorben sind, erklart sich bereit, mit ihrem
geerbten Vermogen mitzuhelfen und gleichzeitig auf Heinrichs Antrag
seine Frau zu werden. Der Kleinhandel in der landlichen Heimat kann
Heinrich bald nicht mehr befriedigen. Die erneute Teilnahme an
Spekulationen lasst ihn schliesslich vor dem Bankrott stehen. Heinrich
verfallt der Trunksucht. Vergebens fleht er Carsten um Hilfe an. Beim
Bruch der Schleuse verschafft sich Heinrich ein Boot und wird betrunken
von der Sturmflut verschlungen.
Vater Curator und die burgerliche Familientradition
Gleich in der Exposition wird der Charakter und die Gemutsart des
Protagonisten Carsten Carstens, Sohn eines tugendhaften Kleinburgers und
Handlers, dargestellt. Er ist ein fursorglicher Rechtsbeistand, ein
"Curator einer Menge von verwitweten Frauen und ledigen
Jungfrauen" (456) (6) ein "unantastbarer Ehrenmann"
(ebd.), ein Mann von "wenig Worten und kurzem Entschluss"
(457) mit "Sittenstrenge" (459); und ein "verstandige(r)
ruhig abwagende(r) Mann" (460), also ein "Reprasentant des
provinziellen Lebensmusters" (Freund 59). Auf dem eingeengten
burgerlichen Hafenplatz an der Twiete sind die Menschen--es versteht
sich--fest eingebunden in den seit Generationen kaum veranderten
Lebensablauf, in "Tradition und Konvention, in Klatsch und
Tratsch" (Freund ebd.). Die kleinburgerlichen Zuge werden durch den
Lebensstil und die allgemeinen Massstabe des Urteils gezeigt, wie
Winfried Freund im Folgenden bemerkt:
Pedantisch geregelte Lebenslaufe, Erwerbs- und Pflichteifer,
Zweckdenken, Sparsamkeit, verbissener Ernst und anspruchslos
unauffallige Lebensweise fugen sich zum Bild eines freudlosen
Alltags ohne Hohen und Tiefen [...] (Freund ebd.)
Durch den Erzahler erfahrt der Leser gleich nach der
Charakterisierung des Curators von einer zwanzig Jahre zuruckliegenden
unerhorten Begebenheit, namlich die Begegnung Carstens mit der um vieles
jungeren schonen Juliane, die Tochter eines fremden Spekulanten, der
sich in der dort genannten Blockadezeit erhangt hat (457). Juliane ist
wie ein Stern, der in Carsten Moglichkeiten fur ein "anderes
Leben" wachruft:
Sie war es doch gewesen, die mit dem Licht der Schonheit
in sein Werktagsleben hineingeleuchtet hatte; ein fremder
Schmetterling, der uber seinen Garten hinflog und dem seine
Augen noch immer nachstarrten, nachdem er langst schon
seinem Blick entschwunden war. (460)
Die gepflegten Konventionen des kleinburgerlichen Lebens mit ihren
Pflichten und ihrem Ordnungswillen sind Juliane fremd. Sie bildet mit
ihrer "spielerische(n) Selbstverliebtheit" (Patzold 137) den
Gegenpol zu Carstens rechtschaffener und etwas steifer Art; sie fungiert
als die Fremde, die eine von draussen kommende Anziehungskraft
verkorpert wie die slowakische Margret in Draussen im Heidedorf, die so
viel wie eine Zerstorung des ordentlichen Lebensablaufs bedeutet. Da
Juliane eine Verkorperung der fremden Welt mit unbandiger Lebensfreude
ist und daher eine Gefahr fur den burgerlichen Alltag darstellt, erlebt
Carsten eine verwirrende "Unterwerfung der schlichtburgerlichen
Pflichtmassigkeit und Anspruchslosigkeit unter das damonische Prinzip
sinnlicher Schonheit," wie dies der Erzahler dem Leser vor Augen
fuhrt: "Sie hatte einen schildpattenen Frisierkamm in der Hand und
strich sich damit durch ihr schweres goldblondes Haar, das aufgelost
uber ihren Rucken herabhing [...]."
Carstens Ungluck wird durch diese einmalige
"Entgleisung," die ihn vom "Tugendpfad des korrekten
Burgers" (Laage, Die Schuld des Vaters, 13) abweichen lasst,
verursacht. Die Ahnung des Verlorenseins, bedingt durch das
verhangnisvolle Schicksal und durch das Ausserachtlassen seines
Verstandes und seines Gefuhls ist, so Hartmut Patzold, ein Zeichen fur
seine "Verunsicherung und Angst" (Patzold 136) bis hin zur
"Auflosung der Person," (9) wie sie sich z. B. im Entzug der
burgerlichen Identitat und deren kulturellen Normen bei Carsten
andeutet. Eine auffallende Veranderung an Carsten seit der Begegnung mit
Juliane wird in der Novelle wie folgt dargestellt:
seine noch immer hohe Gestalt schien plotzlich zusammen-gesunken,
die ruhige Sicherheit seines Wesens war wie ausgeloscht; wahrend
er das eine Mal ersichtlich den Blicken der Menschen auszuweichen
suchte, schien er ein ander Mal in ihnen fast angstlich eine
Zustimmung zu suchen, die er sonst nur in sich selbst gefunden
hatte [...] Man hatte glauben konnen, der alte Carsten habe sich
noch in seinen hohen Jahren ein boses Gewissen zugelegt. (492-493)
Carstens Tragodie entfaltet sich durch die Unsicherheit seines
Wesens und zugleich durch die uppige Erfahrung von Lebensfulle, mit der
ihn Juliane konfrontiert, die ihn zwar fasziniert und die ihm
Daseinsfreude bringt, die aber auch sein Lebensziel und die
Familientradition in Frage stellt. Diese Familientradition wird in der
Novelle einmal durch das Bild eines machtigen Bierbaums vertreten, der
zugleich das Sinnbild eines "ursprunglich-vitalen Lebens"
(Freund 62) und einer "intakte(n), vitale(n)
Familientradition" (Patzold 136) mit wirtschaftlichem Erfolg
darstellt. Das Familienbild, das in Scherenschnitten drei Generationen
beim Abendspaziergang zeigt und die "Menschheit," die
"von der Nacht, vom Tod, in ewigen Nichts" (Schweitzer 45)
abgelost werden wird, symbolisiert und eine Vergegenwartigung der
Verbindung zwischen den Toten und den Nachgelassenen bedeutet, ist der
Ausdruck der Erinnerung und zugleich der Sehnsucht nach einem Halt und
einer "Geborgenheit im Familienverband" uber die Generationen
hinweg. Wie aus dem Text hervorgeht, werden sowohl der Baum, der einst
von dem Grossvater gepflanzt wurde, als auch das Familienbild zum
"Symbol fur die Einheit der Geschlechter" (Hilbig 74):
Manchmal, in stiller Abendstunde oder wenn ein Leid sie
uberfiel, hatten sie (die Geschwister) - sie wussten selbst kaum
wie--sich vor dem Bilde Hand in Hand gefunden und sich der
Eltern Tun und Wesen aus der Erinnerung wachgerufen. "Da
sind wir ubrigen denn noch beisammen [...]" (471)
Dass Carstens sich um das Familientreffen am Weihnachtsfeiertag mit
dem in der Fremde lebenden und anscheinend sozial herabgekommenen Sohn
Heinrich bemuht, deutet auch unverkennbar auf eine auf Soliditat und
Ordnung gegrundete Familientradition hin. Heinrichs sorgloses,
leichtsinniges Wesen widerspricht gerade der burgerlichen traditionellen
Familienordnung, wie es der Erzahler mit kritischer Distanz schildert:
"Von den Kummernissen, die er den Seinen zugefugt, schien ihm
(Heinrich) keine Ahnung gekommen zu sein" (486). Julianes Wesen hat
in Heinrichs sorgloser, leichtsinniger Art uberlebt, jedoch wird die
bezaubernde Kraft bei Juliane, die dem eintonigen Leben Freude bringt,
in Heinrich zur Macht der "bosen Lust" (477). Wie aus dem
Handlungsablauf ersichtlich ist, lebt Heinrich dem burgerlichen Leben
widersprechend die unbandige Lust. Dass er spekuliert, sich in gewagte
geschaftliche Unternehmungen einlasst und schliesslich Bankrott macht,
versinnbildlicht nach Patzold "das Scheitern an einer Flucht in den
burgerlichen Traditionalismus" (Patzold 139). Es ist ein Verstoss
gegen das "ethische Gesetz," (11) ein vergeblicher Kampf gegen
das unerbittliche Faktum und ein Zeichen fur den Verfall einer
burgerlichen Familie mit der Verkummerung in der
"Vater-Sohn-Beziehung." Regina Fasold beruft sich auf Karl
Vogts Schrift "Schmarotzer im Tierreich" (1874) (12) und
bezeichnet diese Beziehung als eine "parasitare Bindung," die
gepragt sei durch eine "einseitige Symbiose, die in ihrem Kern gegenseitige Versklavung" (Fasold, "Theodor Storms
Verstandnis" 53) bedeute. Die Folge davon ist, dass Vater und Sohn
aneinander zugrunde gehen, beide verlieren ihre Existenzgrundlage und es
kommt zum "Untergang seines Hauses" (514). Der Erzahler
schildert den ruinierten Vater Carsten, wie die Bande des Blutes sein
Schicksal an das seines Sohnes gekettet hat: "Damals--ja, damals
hatte er sein Leben selbst gelebt; jetzt tat ein Anderer das; er hatte
nichts mehr, das ihm selbst gehorte--keine Gedanken--keinen
Schlaf--" (501).
Wie Storm selbst einmal gegenuber Albert Niess geaussert hat,
gehore die Novelle Carsten Curator zu jenen Werken, in denen der Dichter
sich den Grausamkeiten sowie Zwangen des Daseins stelle, ohne den
Versuch zu machen, durch Poetisierung deren Harte zu mildern. Dies fuhrt
teilweise zu massiver zeitgenossischer Kritik, weil Storm damit
"gegen den Zeitgeschmack," d. h. "gegen die
ungeschriebenen Gesetze des poetischen Realismus verstossen hatte."
(13)
Vererbung und Trunksucht
Vor diesem Hintergrund kann man deutlich sehen, wie sehr das
unbekummerte Wesen Heinrichs mit dem Vaterleid und der daraus
resultierten Frage nach der Schuld des Vaters verbunden ist. Die Sorge
Carstens um seinen Sohn Heinrich zieht sich wie ein roter Faden durch
die Handlung und wird zudem ausdrucklich vom Erzahler betont:
[...] auch mit Carsten legte sich abends in seinem Alkovenbette
etwas auf das Kissen, was ihm, er wusste nicht wie, den Schlaf
verwehrte; und wenn er sich aufrichtete und sich besann, so sah er
seinen Knaben vor sich, und ihm war, als sahe er mit Angst ihn
grosser werden. (461)
In einem Selbstgesprach wendet sich Carsten an seine verstorbene
Frau Juliane mit der Vorhersage, dass auch der Sohn ihm das Herz
zerreissen werde; und gleich darauf bittet er Gott, dass er fur Heinrich
leiden wolle, nur moge er ihn nicht verlorengehen lassen (479). Wenn man
Carstens Sorgen um Heinrich mit Storms realem Leben im Umgang mit seinem
altesten Sohn Hans vergleicht, ist das Leid des Vaters der verbindende
Zug zwischen Storms Biographie und mancher Problemzeichnung in seinen
Spatnovellen. Aus dem biographischen Hintergrund von Storms Familie wird
ersichtlich, wie der Dichter das Problem auch unter Vererbungsaspekten
der Familie sieht, denn als sein altester Sohn Hans der Trunksucht
verfallen war und Alkoholiker wurde, bat Storm Hans, sich vom Wirtshaus
zu distanzieren und warnte ihn davor: "Das Bier ist in Bezug auf
Euch Jungens eine von meinen Todesangsten." (14) Auch in einem
Brief an Hans, datiert vom 22. Dezember 1878, hat Storm geaussert, dass
sein eigener Vater auch von der Trunksucht heimgesucht wurde: "der
Bluttropfen, der aus Grossvaters Geschlecht kommt, mag einen Theil
Deines grossen Unglucks [...] tragen." (15) Ahnliches hat er seinem
Bruder Otto geschrieben: die "Last des Erbtheils hat noch dran
gehangen. Unsres Vaters zwei Bruder haben sich todt getrunken, deren
Sohne und Enkel; er wird es auch." (16)
Storms Vaterleid in seinem realen Leben wird hiermit nicht nur
durch die Vaterfigur Carsten Curator sehr deutlich zum Ausdruck
gebracht, sondern auch funf Jahre spater in der Novelle Hans und Heinz
Kirch, in der das Schuldgefuhl des Vaters fast ein motivisches Zentrum
bildet. (17) Er lasst das Vaterleid in Carsten Curator nicht lediglich
durch die verhangnisvollen Taten Heinrichs zum Ausdruck kommen, sondern
entwickelt es zu einer aus dem Verstoss gegen das ethische Gesetz
resultierenden Vater-Schuld - ein Indiz dafur, dass seine Gedanken an
die zu seiner Zeit viel diskutierte Vererbungstheorie (18) anknupfen,
wie sie ihren Niederschlag in den naturalistischen Dramen findet. Das
wird besonders stark im Alkoholismusproblem (19) verdeutlicht, hier bei
Storm am Beispiel des von der Trunksucht heimgesuchten Sohnes Heinrich.
Die Trunksucht fungiert als Zeichen eines unausweichlichen Verfalls
einer burgerlichen Familie der industriellen Zeit, und das Motiv wird
auch durch die Vaterfigur als ein zeitgemasses Diskussionsthema im
Zusammenhang mit der Vererbung zum Ausdruck gebracht. Im
Bekenntnisgesprach Carstens mit seiner Schwester Brigitte spricht er
einmal uber die Erbanlage:
Meinst du [...] dass die Stunde gleich sei, in der unter des
Allweisen Gottes Zulassung ein Menschenleben aus dem Nichts
hervorgeht?--Ich sage dir, ein jeder Mensch bringt sein Leben
fertig mit sich auf die Welt; und alle, in die Jahrhunderte
hinauf, die nur einen Tropfen zu seinem Blute gaben, haben
ihren Teil daran. (478)
Es scheint mir eine Notwendigkeit zu sein, an dieser Stelle auf
Storms bisher wenig erforschte spate Novelle John Riew'
hinzuweisen, da darin das Thema der Vererbung im Zusammenhang mit der
Trunksucht unverkennbar gestaltet wird. Dort sagt der Kapitan John
Riew' zu dem alten Doktor Snittger, seinem Gegenuber beim Gesprach:
Sie wissen, die Gelehrten mussen ja allzeit was Neues aushecken,
und damals hatten sie es mit der Vererbung vor--es war just ein
solcher Artikel, den ich [...] im Correspondenten las, und ich muss
sagen, obschon es mir Phantastereien schienen, ich vertiefte mich
immer mehr darin, konnte nicht davon los. [...] Alles ist vererblich
jetzt: Gesundheit und Krankheit, Tugend und Laster ..." (20)
Der Doktor Snittger versuchte, dem Kapitan die vorgetragene Theorie
auseinanderzusetzen und er erwiderte:
den mitschuldigen Vorfahren musste gerechter Weise doch
wenigstens ein Teil der Schuld zugerechnet werden [...]. Wissen
Sie nicht, dass selten ein Trinker entsteht, ohne dass die Vater
auch dazu gehorten? Diese Neigung ist vor Allem erblich." (ebd.,
376f.)
Erst in der Novelle John Riew' (1885) scheint Storm sich
konkreter mit der Vererbung beschaftigt zu haben, als es zur
Entstehungszeit der Novelle Carsten Curator (erschienen 1878) der Fall
war. Es gelingt ihm in der Novelle John Riew', dem
Vererbungsproblem durch die Hoffnung als "Helferin zum Leben"
(ebd., 388) im Schlussteil der Novelle eine etwas positivere Wendung zu
geben. Anzumerken sei hier, dass Storm, so wie es in der Novelle John
Riew' dargestellt ist, aus dem "Hamburgischen unparteiischen
Correspondenten"--einer zu Storms Zeit vielgelesenen Hamburger
Tageszeitung (21)--, seine Kenntnisse uber die Vererbung bezogen hat.
Peter Goldammer weist zwar auf diese "mogliche Quelle"
(Goldammer 147) fur Storms Kenntnisse uber die Vererbung hin, jedoch ist
es noch nicht erforscht, so Goldammer, "wann und auf welche Weise
Storm erfahren hat, dass nicht nur Geisteskrankheiten vererbt werden
konnen, sondern auch chronischer Alkoholismus oder, wie man damals
sagte, Trunksucht [...]" (ebd.) An einer weiteren Stelle weist
Goldammer auf einen aus Franz Stuckerts Werk zitierten Brief von Storm
an seine Tochter Lucie und Elsabe, datiert vom 15. April 1885, hin, aus
dem hervorgeht, dass Storm uberlegte, ob er Hans in einer
"Besserungsanstalt" (22) unterbringen musse, ohne jedoch naher
darauf einzugehen.
Zu erwahnen ist hier die von dem angesehenen Nervenarzt August
Forel, dem Professor an der Universitat Zurich, von 1879-1898 verwaltete
Zurcher kantonale Nervenheilanstalt Burgholzli. Forels Schriften uber
die Nachwirkung der Trunksucht auf die Nachkommenschaft, die Entwicklung
der Trunksucht durch soziale Faktoren und ihre Bekampfung unter anderem
mit Hilfe der Abstinenzbewegung waren den Zeitgenossen in Europa,
vorwiegend in Deutschland und in der Schweiz, bekannt und standen im
Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses der damaligen Zeit. Anhand
der gehaltenen Vortrage kann man zur Schlussfolgerung kommen, dass um
die Zeit von 1880 viel vom Alkoholismus bzw. seinen Nachwirkungen
gesprochen wurde und dass der Alkoholismus eine gravierende Rolle im
Volksleben gespielt hat. Regina Fasold geht eher von den
Literaturzeitschriften als den moglichen Quellen fur Storms Kenntnisse
aus und meint, dass sie "wohl eine der
Hauptvermittlungsinstanzen" (Fasold, "Theodor Storms
Verstandnis" 50) fur Storms Kenntnisse uber die Vererbung bilden,
wie etwa Westermann's Illustrierte Deutsche Monatshefte, Deutsche
Rundschau, Hauptquellen fur Storms Darwinrezeption durch die Beitrage
von Karl Vogt und Ernst Haeckel gewesen sein mogen (ebd., 51). So
gesehen teilt Storm mit den naturalistischen Schriftstellern die
Gedanken uber die Trunksucht, versteht und begreift den Menschen als
biologisch und gesellschaftlich determiniert. In seiner Novelle Carsten
Curator und auch spater u. a. in John Riew' druckt er seine
Wirklichkeitserfahrung aus, die er bewusst oder unbewusst aus
Informationen gewonnen hat, die er bei Vortragen oder bei der Lekture
von Literaturzeitschriften gewinnen konnte. Auf diese Weise hat er sich
naturwissenschaftliche, soziologische und auch medizinische Erkenntnisse
des 19. Jahrhunderts angeeignet.
Vater-Schuld und Schicksalstragik
Der Dichter Storm hat einmal dem jungen Freund Erich Schmidt seine
Vater-Schuld wegen des Fehlverhaltens von Hans durch die Trunksucht
gestanden:
Diese Dinge, welche dem armen Jungen, vielleicht nicht ohne culpa
patris "Schuld des Vaters", von kindauf anhaften, fordern den, der
sie kennt, anderseits auch zu einer milderen Beurtheilung des
Menschen Hans auf, und rufen mein, des Vaters, ganzes Erbarmen
auf. (24)
Auch dem Dichterfreund Paul Heyse gegenuber hat er die Frage nach
der Vater-Schuld gestellt:
Sollte die kunstlerische Anlage oder Thatigkeit die
Nachkommenschaft beeintrachtigen, sollte da etwas verbraucht
werden, was jenen zu Gute kommen musste? [...] Und dann--konnen
die armen Jungen was dafur, dass sie nicht anders sind,
als sie vielleicht nur sein konnen? Das herzzerreissende Erbarmen
ist vielleicht noch schlimmer, als der Zorn von dem man mitunter
befallen wird. Und Beides ganz vergeblich. Und dann: Ist auch
eine culpa patris dabei?--" (25)
Es ist also nicht zu ubersehen, dass die Frage nach der
Vater-Schuld bei den Problemen von Trunksucht und nach den Erbanlagen
sowohl in Storms realem Leben (26) als auch in der Figur Carsten Curator
in der gleichnamigen Novelle aufgeworfen wird. Heinrich redet zu Anne:
"Was kann ich dafur, wenn der Wein, den ich trinke, meinem Vater
Kopfweh macht?" (509). Die Trunksucht ist zwar nicht der
hauptsachliche Grund fur Heinrichs Untergang bei der Sturmflut, und
seine Schwache wird sowohl "biologisch" als auch
"gesellschaftlich" (Goldammer 148) (27) determiniert, doch
wird Carsten durch eine "culpa patris," durch eine
Vater-Schuld, belastet. (28) Man denke beispielsweise an die Stelle, wo
Carsten zu Heinrich sagt: "Ich bin weit mit dir gegangen, Heinrich;
[...] Ich gehe nun nicht weiter [...]--Wir bussen Beide dann fur eigene
Schuld" (515). Jedoch bestritt Storm, dass es sich bei Carsten
Curator um "Schuld und Suhne" handele, auch nicht um die
individuelle Schuld, sondern um eine "fatalistisch aufgefasste
Naturgesetzlichkeit, eine Art sakularisierte Erbsunde" (Goldammer
148), die sich zu einem "unabwendbaren Fatum" gestaltet und
den "Schuldlosen in Mitschuld" hineinreisst, wie es aus seinem
Brief an Erich Schmidt vom 24. und 27. September 1877 hervorgeht:
Die [...] Schuld ist allerdings nicht das Wesentliche in dieser
Dichtung; es handelt sich darin uberhaupt nicht um Schuld u.
Suhne; sondern um eine Naturnothwendigkeit, die sich zu
einem unabwendbaren Fatum gestaltet und den Schuldlosen
in Mitschuld hineinreisst; auch der Sohn, der diess veranlasst,
ist ruckwarts durch sein Blut gebunden. (29)
Ingeborg Welp interpretiert in ihrer Dissertation, dass diese
Naturgesetzlichkeit so viel wie die "Abhangigkeit des Menschen von
transzendenten Machten" bedeute; hier erkenne man "das
Unnennbare, das plotzlich auftaucht und als Verhangnis sich unaufhaltsam
fortentwickelt" (Welp 3), eine Sichtweise, die in vielen Novellen
Storm vorkomme. Im September 1881 schreibt Storm an Erich Schmidt dazu,
dass in dieser Novelle das eigentlich tragische Schicksal in der
"Schuld oder Unzulanglichkeit des Menschenthums", in der
"Vererbung des Blutes" liege. Das unabwendbare Fatum wird
zwar zum Schluss besonders durch seine sentimentale Erzahlweise
abgeschwacht, jedoch fungiert die Novelle als ein deutendes Kunstwerk,
das sich der einfuhlsamen Menschlichkeit bedient, um moglicherweise die
Unzulanglichkeit des Lebensdaseins zu sublimieren, so wie wir im Ausgang
der Novelle erfahren, dass durch den Enkel die Menschheit weiterlebt:
die Hoffnung wachst mit jedem Menschen auf; aber Keiner
denkt daran, dass er mit jedem Bissen seinem Kinde zugleich
ein Stuck des eigenen Lebens hingibt, das von demselben bald
nicht mehr zu losen ist. Heil dem, dessen Leben in seines Kindes
Hand gesichert ist; aber auch Dem noch, welchem von Allem,
was er einst besessen, nur eine barmherzige Hand geblieben ist,
um seinem armen Haupte die letzten Kissen aufzuschutteln. (521-22)
Heinrichs Witwe Anna pflegt Carsten liebevoll, und im Enkel bleiben
Trost und Hoffnung erhalten; es ist ein Trost gegen das Bewusstsein des
"Zeit- und Verganglichkeitsgefuhl(s)" (Hilbig 14), das gerade
den "Grundakkord" (ebd.) der gesamten Welt- und
Lebensauffassung Theodor Storms bilde und in fast allen spateren Werken
Storms eine zentrale Aussag darstelle. Um das Zeit- und
Verganglichkeitsgefuhl auszudrucken, gestaltet Storm die Familie (in
Carsten Curator mit den Motiven Bierbaum, Familienbild und
Familientradition) als Thema, denn er glaubt, es gebe da eine
"haltbare Kette," die "das Vergangene an die
Gegenwart" binde. Fur ihn liegt die Bedeutung der Familie in der
Sehnsucht nach Fortleben, auch nach Fortleben der Erinnerung, so wie
auch seine Darstellungen des Todes der Erinnerung des Lebens gelten, so
wie es Wolfgang Fruhwald konstatiert, der von der "letzten
triumphierenden Regung der Lebensenergie gegen den Schatten des
Todes" (Fruhwald 11) spricht.
Schluss
Storms Novelle Carsten Curator ist ein Versuch, sich von seinen
seelischen Bedrangnissen zu befreien, indem er auf poetische Weise seine
Sorgen um den der Trunksucht verfallenen und spater von der
Lungenkrankheit befallenen Sohn Hans gestaltet. Er schliesst sich dabei
an die naturwissenschaftlichen, medizinischen sowie soziologischen
Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts an, insbesondere an die
Vererbungslehre. Er versucht, die Trunksucht als moglicherweise durch
die Erbanlage verursachtes Unheil und die damit zusammenhangende
Schuldfrage eines Vaters in seiner Novelle zur Sprache kommen zu lassen.
Den verhangnisvollen Einflussen von Erbfaktoren gegenuberstehend erkennt
er die unausweichlichen schicksalhaften Begebenheiten durch die
Naturmachte an - eine Versinnbildlichung der Unzulanglichkeit des
Menschendaseins. Er kommt zur Erkenntnis, dass erst durch die
Menschlichkeit und die Liebe Trost und Hoffnung ins Leben gebracht
werden konnen, wobei das Fortdauern der Familien als das Ideale
angesichts der Verganglichkeit der Zeit fungiert. Sein Briefwechsel u.
a. mit der Familie und dem Dichterkollegen Paul Heyse sowie dem jungen
Literaturwissenschaftler und Freund Erich Schmidt dient als
Auseinandersetzung mit seinen inneren Bedrangnissen, sowohl im realen
Leben als auch als Reservoir fur seine literarische Werkstatt, fur sein
dichterisches Schaffen. In diesem Sinne sind in der Novelle Carsten
Curator seine biographischen Zuge mit der poetischen Gestaltung der Welt
ineinander zu einer Einheit verschmolzen, um sein Geschichtsbild und
zugleich die zeitgenossische Wirklichkeit darzustellen.
Anmerkungen
(1) Storm an Albert Niess vom 8.6.1881. Th. Storm. Briefe. Hrsg. v.
Peter Goldammer. Bd. 2, 220; zit. n. Peter Goldammer, "Culpa
patris? Theodor Storms Verhaltnis zu seinem Sohn Hans und seine
Spiegelung in den Novellen ,Carsten Curator' und ,Hans und Heinz
Kirch'" 150.
(2) Georg Bollenbeck stellt fur Storm das Prinzip der
"Werkbiographie" fest, d. h. die "Orte und das Personal,
die Stoffe und die Motive stammen [...] aus der eigenen
Lebenswelt." Bollenbeck, Theodor Storm. Eine Biographie 17f.
(3) Aus dem Briefwechsel zwischen Storm und Lorenzen am 23.5. 1877
und Pietsch am 15.9. 1877, siehe Kommentar zu "Carsten
Curator", Band 2: Theodor Storm. Novellen 1867-1880 hrsg. v. Karl
Ernst Laage. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1998. 947.
(4) Storm an Hans am 22. Mai 1871; zit. n. Karl Ernst Laage,
"Culpa patris". Zur Frage nach der Schuld des Vaters in Storms
Novelle "Carsten Curator" 12, Anm. 8.
(5) Zitate aus Storms Briefen an Paul Heyse (am 3. Nov. 1878:
"Bei meinem Sorgensohne ..."), auch an Karl (am 17. Sept.
1878: "Von meinem Sorgenkind ..."), an Hans (am 22. Febr.
1872: "mein alter Junge, der Du eigentlich meine ungluckliche Liebe
bist"); zit. n. Karl Ernst Laage, ebd., Anm. 5.
(6) Die in Klammern eingesetzten Seitenangaben beziehen sich auf
die folgende Ausgabe: Theodor Storm. Samtliche Werke in vier Banden.
Band 2: Novellen 1867-1880 hrsg. v. Karl Ernst Laage. Sonderausgabe.
Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1998. Carsten Curator
456-522.
(7) Storms Brief an Gottfried Keller vom 15. November 1878, vgl.
Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller hrsg. v.
Peter Goldammer. Berlin: Aufbau-Verlag, 1960.
(8) Storm, Carsten Curator 5. Hartmut Patzold vergleicht Carstens
Begegnung und seine Unterwerfung unter die Schonheit Julianes mit dem
Motiv der Loreley, die mit ihrem erotischen Narzissmus den Mann verfuhrt
und die "Sehnsucht des mannlichen Ichs" wachruft, "in
einen Zustand elementarer Selbstbezogenheit jenseits aller burgerlichen
Verpflichtungen" zu regredieren; Patzold, "Der verunsicherte
Burger" 138; vgl. Auch Markus Winkler. "Mythos Loreley."
Joseph A. Kruse (Hrsg.). "Ich Narr des Glucks". Heinrich Heine 1797-1856. Bilder einer Ausstellung. Stuttgart 1997. 408-414; hier 413;
zit. nach Patzold, ebd., 138, Anm. 40.
(9) Marianne Wunsch. "Experimente Storms an den Grenzen des
Realismus: Neue Realitaten in ,Schweigen' und ,Ein
Bekenntnis'", 15. Wunsch weist insbesondere auf die Passage in
der Novelle hin zur Kennzeichnung der "schwindenden Autarkie des
Ichs": "Damals--ja, damals hatte er sein Leben selbst gelebt;
jetzt tat ein Anderer das; er hatte nichts mehr, das ihm selbst
gehorte--keine Gedanken--keinen Schlaf--." Storm, Carsten Curator
501.
(10) Irene Ruttmann. Nachwort zu Theodor Storm. Carsten Curator.
82. Thomas Nipperdey stellt dar, dass die Familie, das Haus und die
starke Gemeinschaft uber die Generationen hinweg zum "Ruhepunkt in
dieser unruhigen Welt" bei Storm werden. Nipperdey. Deutsche
Geschichte 1800-1866. Burgerwelt und starker Staat. 5. Auflage. Munchen
1991; zit. n. Gerhard Baumann. "Storm im Geschichtsbild des
Historikers" 128.
(11) Nach Josef De Cort gilt das Ethische im Gesamtwerk Storms als:
"Treue und Redlichkeit, ernste Erfullung einer Aufgabe,
Pflichtgefuhl, Heimatliebe, unbestrittene Ehepflicht, Ehrfurcht vor dem
Leben, selbstlose Liebe zur Familie und zum Nachsten." Cort,
"Die Rolle der Ethik in Storms epischem Werk" 106.
(12) Erschienen Westermann's Illustrierte Deutsche Monatshefte
37, Okt. 1874 u. Nov. 1874. 32-45 u. 159-170.
(13) Kommentar zu "Carsten Curator": Wirkung und
Wurdigung. Band 2: Theodor Storm. Novellen 1867-1880 hrsg. v. Karl Ernst
Laage. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1998. 956.
(14) Storm an Hans vom 11. Nov. 1871 und vom 29. Marz 1872; zit. n.
Peter Goldammer, "Culpa patris?" 146, Anm, 18 u. 19.
(15) Ungedruckt, SHLB-Kiel, zit. n. Karl Ernst Laage, ",Culpa
patris'. Zur Frage nach der Schuld des Vaters in Storms Novelle
,Carsten Curator'"12, Anm. 11.
(16) Storm an seinen Bruder Otto vom 22. Dez. 1883; zit. n. Peter
Goldammer, "Culpa patris?" 146.
(17) Bereits 1867 hat Storm das Motiv Schuld eines Vaters in seiner
Novelle "Aquis submersus" gestaltet. In der Novelle "Hans
und Heinz Kirch" wird nicht nur das Schuldgefuhl des Vaters Kirch
gezeigt, sondern auch seine subjektive Schuld als solche.
(18) Auch schon in der Novelle "Aquis submersus" ist von
der Erbanlage die Rede: "Wie ratselhafte Wege gehet die Natur! Ein
saeculum und druber rinnt es heimlich wie unter einer Decke im Blute der
Geschlechter fort; dann, langst vergessen, taucht es plotzlich wieder
auf, den Lebenden zum Unheil [...]" Theodor Storm. Samtliche Werke
in vier Banden. Band 2: Novellen 1867-1880 hrsg. v. Karl Ernst Laage.
402. Zum Thema Vererbung und Alkoholismus in Storms Werken siehe John H.
Ubben. "Heredity and Alcoholism in the Life and Works of Theodor
Storm." The German Quarterly 28.4 (1955): 231-236. Auch wenn Wiebke
Strehl darauf hingewiesen hat, dass diese Studie "einige Tatsachen
zu verzerren" scheine, dass Ubben versaume, "detalliert auf
die einzelnen Novellen einzugehen," und nicht "auf einen
gesellschaftskritischen Ansatz Storms und weiterreichende Kritik an der
Familie" hinweise, ist sie allerdings die erste uber die Vererbung.
Strehl. Vererbung und Umwelt: Das Kindermotiv im Erzahlwerk Theodor
Storms. 15, Anm. 26, u. 10. Strehl hat die geschichtliche Bedeutung der
Themen Alkoholismus und Vererbung, die als zusammenhangende Themen fur
Storms Spatnovellen gelten, uberhaupt nicht beachtet, obwohl sie in
ihrem Werk die Bereiche "Vererbung und Umwelt ..." untersucht.
(19) Diese Thematik tritt unter dem Einfluss von Emil Zola bei den
Naturalisten in einigen Werken auf, insbesondere in Gerhart Hauptmanns
Drama "Vor Sonnenaufgang," und ansatzweise in den Dramen
"Die Weber" sowie "College Crampton," wie auch in
Arno Holz und Johannes Schlafs Prosawerk "Papa Hamlet" und in
dem Drama "Die Familie Selicke". Siehe auch Gunter Schmidt.
Die literarische Rezeption des Darwinismus: Das Problem der Vererbung
bei Emile Zola und im Drama des deutschen Naturalismus. Sitzungsberichte
der sachsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
Philologisch-historische Klasse; Band 117, Heft 4. Berlin: Akademie,
1974. Zu Alkoholismus und die Naturalisten siehe auch das bisher in der
Forschung vernachlassigte einaktige Drama "Steintrager Luise"
von dem Naturalisten Georg Hirschfeld. Mei-ling Wang, "Der
Alkoholismus. Georg Hirschfelds Drama Steintrager Luise." Fu Jen
Studies 36 (2003): 28-41.
(20) Theodor Storm. Samtliche Werke in vier Banden. Band 3:
Novellen 1881-1888. 376.
(21) Stellenkommentar zu "John Riew'"; Theodor
Storm. Samtliche Werke in vier Banden. Band 3: Novellen 1881-1888 hrsg.
v. Karl Ernst Laage. 920.
(22) Goldammer, "Cupla patris?" 147; auch Franz Stuckert.
Theodor Storm. Sein Leben und seine Welt. Bremen 1955. 103f.
(23) Meine These stutzt sich auf die unveroffentliche Untersuchung
zu "Alkoholismus und seine Auswirkung auf die Familienverhaltnisse
am Beispiel der Werke der Naturalisten" wahrend meines
Forschungsaufenthalts in Deutschland mit Unterstutzung des DAAD, Sommer 2002. Forels Verdienste liegen u.a. auch in den Veroffentlichungen uber
die verheerenden Wirkungen des Alkohols, vor allem in Hinblick auf die
physischen sowie psychischen Schaden im Hinblick auf den Alkoholismus.
Dazu siehe den Brief von Paul Julius Mobius an August Forel vom 21. Nov.
1891. August Forel. Briefe. Correspondance 1864-1927. Hrsg. v. Hans H.
Walser mit einem Vorwort von Prof. Manfred Bleuler. Bern, Stuttgart:
Hans Huber 1968. 252, Anm. 9; 263, Anm. 24. Es wurden ausserdem um 1880
Abstinenzvereine, wie z. B. die Guttempler in Deutschland, etwa in
Schleswig Holstein und in Berlin, gegen den Missbrauch geistiger
Getranke gegrundet. Zahlreiche Arzte, Juristen, Geistliche und
Volkswirte beschaftigten sich mit der Trunksuchtfrage und haben den
Ernst dieser Frage fur das gesamte Volksleben anerkannt. Die Trunksucht
galt damals als "Volksfeind". Wilhelm Martius. Die Behandlung
der Trunksuchtsfrage in Deutschland. Halle: Ploss'sche
Buchdruckerei, 1890. 11. Hans Eichentopf weist auch auf das damals viel
diskutierte Thema hin: "Anfang der 1880er Jahre muss diese Theorie
Tagesgesprach gewesen sein und gleichsam in der Luft gelegen
haben." Eichentopf. Theodor Storms Erzahlungskunst in ihrer
Entwickelung. 2. Zu Alkoholismus siehe Emil Abderhalten. Bibliographie
der gesamten wissenschaftlichen Literatur uber den Alkohol und den
Alkoholismus. Berlin, Wien: Urban & Schwarzenberg, 1904.
(24) Brief an Erich Schmidt, datiert vom 5. April 1877; zit. nach:
Kommentar zu "Carsten Curator": Quellen. Theodor Storm.
Samtliche Werke. Band 2: Novellen 1867-1880 hrsg v. Karl Ernst Laage.
Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1998. 950.
(25) Storms Brief an Paul Heyse vom 22. Oktober 1879. Theodor
Storm--Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Erster Band:
1853-1875 hrsg. v. Clifford Albrecht Bernd. Berlin: Erich Schmidt, 1969.
52.
(26) Vgl. Storms Brief an Erich Schmidt, datiert vom 30. Marz 1877.
Theodor Storm - Erich Schmidt. Briefwechsel. Erster Band: 1877-1880
hrsg. v. Karl Ernst Laage. 32. Ausser der Schuld gegenuber dem Sohn Hans
hat Karl Ernst Laage auf Storms personliche Schuld hingewiesen, dass
Storm mit Constanze eine Cousine geheiratet und so den Ausbruch von - in
der Familie latent vorhandenen - verhangnisvollen Erbanlagen forciert
(Laage, "Die Schuld des Vaters" 11) und dass Storm in der
Fruhzeit seiner Ehe mit Constanze eine Affare mit Doris Jensen gehabt
habe, siehe Laage, "Culpa patris" 8f.
(27) Peter Goldammer, "Culpa patris? Theodor Storms Verhaltnis
zu seinem Sohn Hans" 148. Wolfgang Tschorn sieht die Ursache fur
Heinrichs Untergang in der Wirtschaftsform, indem er konstatiert:
"Doch Ursache der Zerstorung ist nicht die Vererbung, wie Carsten
Curator es vermutete, sondern die neue Form der Wirtschaftsweise, die
den Individuen scheinbar garantiert, das ,grosse Geschaft' zu
machen. Tschorn. Idylle und Verfall. Die Realitat der Familie im Werk
Theodor Storms. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 1978. 156.
(28) Storm selbst sieht fur Carsten die Schuld darin, dass er seine
Pflichten als Curator seiner Pflegetochter Anna gegenuber
vernachlassigt; und er ist auch mitschuldig dadurch, dass er Anna
Heinrichs in den Briefen dokumentiertes Verbrechen verschweigt. Siehe
Storm an Niess vom 26. Marz 1878 u. Storm an Erich Schmidt vom 24. Sept.
1877; zit. n. Karl Ernst Laage, "Die Schuld des Vaters" 21,
Anm. 40.
(29) Theodor Storm - Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe
hrsg. v. Karl Ernst Laage. 2 Bde. Berlin 1972-76. Bd. I, 62. Uber das
Thema ,,Schuld des Vaters" hat sich Storm bereits 1867 in der
Novelle "Aquis submersus" geaussert, in der er seine eigene
Theorie des epischen Tragischen entwickelt; erst in Carsten Curator wird
das Thema durch die Vaterfigur Carsten ausfuhrlicher behandelt.
(30) Ingeborg Welp. Das Problem der Schicksalsgebundenheit in
Novellen Theodor Storms. Diss. Univ. Frankfurt am Main 1952. 3. Welps
Feststellung stutzt sich allerdings auf die These von Bernhard Bruch:
"Die ,unerhorte Begebenheit' [...] als eine schicksalhafte
Wende, die sich im Leben des Menschen vollzieht, ohne dass er darauf
auch nur den geringsten Einfluss hatte. Irgend etwas ,geschieht'
ihm, dem er machtlos gegenubersteht, ohne die Entschlussfreiheit, in
deren Besitz wir den Helden der Tragodie bis zum Untergang wissen."
Bernhard Bruch. "Novelle und Tragodie: zwei Kunstformen und
Weltanschauungen." Zeitschrift fur Asthetik und allgemeine
Kunstwissenschaft. Bd. 22. 1928; zit. n. Ingeborg Welp, ebd., 2.
(31) Theodor Storm - Erich Schmidt. Briefwechsel, ebd., Bd. II, 49.
(32) In Storms Brief an Theodor Mommsen vom 12. Okt. 1884 ausserte
er sich uber die Vererbung als das "moderne Schicksal," dem
nicht auszuweichen ist und wodurch man "trotz ehrlichen Kampfes
dennoch mit der Weltordnung in Konflikt, auch wohl zum Untergang
kommt."; zit. n. Regina Fasold, "Theodor Storms Verstandnis
von ,Vererbung'" 54, Anm. 28; ahnliches ausserte Storm in den
Aufzeichnungen "Was der Tag giebt": " [...] Der
vergebliche Kampf gegen das, was durch die Schuld oder auch nur die
Begrenzung, die Unzulanglichkeit des Ganzen, der Menschheit, von der der
(wie man sich ausdruckt) Held ein Teil ist, der sich nicht abzulosen
vermag, und sein oder seines eigentlichen Lebens herbeigefuhrter
Untergang scheint mir das Allertragischste [...]" Gertrud Storm.
Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. 175f.
(33) Nach J. M. Ritchies Untersuchung gelten die
"Verganglichkeit" und das "Bewusstsein der Zeit" als
Hauptmerkmale des deutschen Realismus, denn die Realisten wollten
"das ideale Bild der alten Welt bewahren, ehe es auf immer
verblasste und verschwand." Ritchie, "Theodor Storm und der
sogenannte Realismus", 27; zu Storms Verganglichkeitsgefuhl siehe
auch Regina Fasold "Zu einigen Aspekten von Theodor Storms
Weltbild" 106.
(34) Siegfried Lenz. "Erlittenes Verganglichkeitsgefuhl. Zum
hundertsten Todestag von Theodor Storm." Frankfurter Allgemeine
Zeitung. Samstag, 2. Juli 1988. Nr. 151.
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Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 43 (1994): 127-138.
Bollenbeck, Georg. Theodor Storm. Eine Biographie. Frankfurt am
Main: Insel, 1988.
Cort, Josef De. "Die Rolle der Ethik in Storms epischem
Werk." Wege zum neuen Verstandnis Theodor Storms. Vortrage und
Referate zum 150.
Geburtstag. Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 17 (1968):
102-107.
Eichentopf, Hans. Theodor Storms Erzahlungskunst in ihrer
Entwickelung. Beitrage zur deutschen Literaturwissenschaft; 11. Marburg:
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Fasold, Regina. "Zu einigen Aspekten von Theodor Storms
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