摘要:"Aber es war mir Ernst", schrieb Herbart in einer seiner späten Kantreden, "daß ich mich Kantianer nannte, ungeachtet ich selber vielleicht beschuldigt werde, an die Stelle der Kantischen Lehre eine andre und weit verschiedene gesetzt zu haben." (Herbart 1832, 26) Mehr als einmal beteuerte dies Herbart, der fast ein Vierteljahrhundert den Lehrstuhl Kants in Königsberg innehatte. Dennoch wurde sicherlich mit Recht in Herbart immer wieder der Kantkritiker gesehen, der die Ansprüche der Transzendentalphilosophie ablehnte oder umformte.1 Ich will im folgenden die These wagen, daß Herbart mit seiner Kantkritik die Grundrichtung der Kantischen Philosophie verfehlte, daß er aber - vielleicht gerade wegen dieses Mißverständnisses - einen Philosophiebegriff entwickelte, der bis heute Aktualität beanspruchen kann. Hier liegt die bleibende Leistung Herbarts. Thesenartig lassen sich meine Ausführungen wie folgt zusammenfassen: 1. Herbart mißdeutet Kant, indem er ihn psychologistisch interpretiert, wozu Kant selber Anlaß gegeben hat. Nicht weiter erstaunlich gehen daher auch in Herbarts Argumente gegen die Transzendentalphilosophie psychologische Annahmen seiner spezifischen Bewußtseinstheorie ein. 2. Kants Transzendentalphilosophie scheitert folglich zumindest nicht aus den Gründen, die Herbart angibt, denn sie will ihrer Idee nach gar keine Konstitutionsfragen, sondern ausschließlich Geltungsfragen klären. Diese sind methodologisch von Problemen der psychologischen Realisierung strikt zu trennen. 3. Herbart behält dennoch Recht gegenüber Kant, aber in einem anderen Sinn. Das Moderne Herbarts gegenüber Kant ist sein an den Wissenschaften orientierter Philosophiebegriff, der auf apriori-Ansprüche verzichtet und statt dessen begriffsanalytische Verfahren fordert. Hiermit schafft er die Voraussetzungen einer Philosophischen Psychologie.