Schon wieder das deutsche Bürgertum? Seine Geschichte spielt in der deutschen Geschichtswissenschaft eine im internationalen Vergleich eigentümlich zentrale Rolle. Das gilt auch über zehn Jahre nach dem Ende der beiden „Flaggschiffprojekte“, des Bielefelder Sonderforschungsbereichs zur „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“ und der von Lothar Gall geleiteten Frankfurter Historikergruppe „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“. Dies hat mindestens zwei Gründe. Zum einen war die Erforschung des Bürgertums von Anfang an mit intensiv diskutierten Fragen der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert verbunden, namentlich mit dem Streit um den „deutschen Sonderweg“ in die Moderne (und den Nationalsozialismus) und um Ansätze zu einer zivil-demokratischen „Bürgergesellschaft“ nach 1800. Letztlich geht es in der Bürgertumsforschung um die Demokratiefähigkeit der deutschen Gesellschaft – auch nach 1945. Deshalb sorgt inzwischen besonders die Frage nach der Kontinuität des Bürgertums im 20. Jahrhundert für hitzige Debatten. Zum anderen kreuzten sich in der Bürgertumsforschung die Klingen der „alten“ Sozialgeschichte und der „neuen“ Kulturgeschichte. Die Frage nach dem Bürger war in Deutschland immer auch eine Frage nach der richtigen Art Geschichte zu schreiben. Im Ergebnis führt das zu einer weit verzweigten und immer schwieriger zu überschauenden Forschungslandschaft, in der die Deutung des Bürgertums zunehmend (wieder) mit Ideen jenseits der sozialen Klassenbildung verknüpft und mit Perspektiven der Geschlechter-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte verbunden wird. Auch wenn es nirgendwo in Europa eine ähnliche Bürgertumsforschung gibt: Das Thema wird in Deutschland wichtig bleiben.